Geschichte nach Karl Heinrich Waggerl (1897-1973)
Engel: „Von wegen stille Nacht, heilige Nacht …, erst musste ich den Hirten auf dem Feld beibringen, dass heute der Heiland geboren ist. Die hatten vielleicht Schiss, sage ich Euch. Die hatten ja noch nie einen Engel gesehen vorher. Da musste ich wirklich mit Engelszunge auf sie einreden, damit sie nicht alle auseinanderstieben wie eine ängstliche Schafherde bei Gewitter. Aber das habe ich geschafft. So und nun habe ich noch eine Botschaft für Joseph. Streng geheim und suuuper eilig. Das Jesuskind ist nämlich in höchster Gefahr. König Herodes von Galiläa lässt es suchen und will es töten lassen, weil er der Herrscher sein will. Und das alles bloß, weil die drei Weisen aus dem Morgenland sich in der Hausnummer geirrt haben. Die sind einfach nicht dem Stern gefolgt, sondern dachten, das größte schönste Haus in Jerusalem wird schon richtig sein. Und da haben sie nach dem neugeborenem König der Juden gefragt und ihr könnt Euch vielleicht vorstellen, wie der Herodes da aus der Wäsche geguckt hat. Na ja, ich muss weiter, Leute, es eilt.“
Engel: „Ach ja, was für ein schönes Bild, alle schlafen. Ich schicke dem Josef am besten einen Traum, dass er mit seiner Familie vor der Bosheit des Herodes fliehen muss, sonst läuft der mir vielleicht auch gleich noch davon, wie die Hirten.“
„Joseph, Joseph steh auf, nimm das Kindlein und seine Mutter mit dir und flieh nach Ägypten und bleib dort, bis ich dir's sage!“
Engel: „So das wäre geschafft. Zur Sicherheit werde ich aber noch ein Wörtchen mit dem Esel sprechen. Das ist Elias, der braucht immer besonders viel Zuwendung.
Elias! Steh auf Elias! Du darfst Maria und das Jesuskind nach Ägypten tragen."
Esel: „He, was ist los, Ägypten? Kannst du das nicht selber besorgen? Du hast doch Flügel, und ich muss alles auf dem Buckel schleppen! Warum denn gleich nach Ägypten, so himmelweit!"
Engel: "Sicher ist sicher!"
Und das war einer von den Sprüchen, die selbst einem Esel einleuchten müssen.
Als Elias nun aus dem Stall trottete und zu sehen bekam, welch eine Fracht Josef für ihn zusammengetragen hatte, das Bettzeug für die Wöchnerin und einen Pack Windeln für das Kind, das Kistchen mit dem Gold der Könige und zwei Säcke mit Weihrauch und Myrrhe, einen Laib Käse und eine Stange Rauchfleisch von den Hirten, den Wasserschlauch, und schließlich Maria selbst mit dem Knaben, auch beide wohlgenährt, da fing Elias gleich wieder an, vor sich hinzumaulen. Es verstand ihn ja niemand außer dem Jesuskind.
Esel: "Immer dasselbe bei solchen Bettelleuten! Mit nichts sind sie hergekommen, und schon haben sie eine Fuhre für zwei Paar Ochsen beisammen. Ich bin doch kein Heuwagen!" Aber so sah er dann wirklich aus, als ihn Joseph am Halfter nahm; es waren kaum noch die Hufe zu sehen.
Elias wölbte den Rücken, um die Last zurechtzuschieben, und dann wagte er einen Schritt, vorsichtig, weil er dachte, dass der Turm über ihm zusammenbrechen müsse, sobald er einen Fuß voransetze, Aber seltsam, plötzlich fühlte er sich wunderbar leicht auf den Beinen, als ob er selber getragen würde; er tänzelte geradezu über Stock und Stein in der Finsternis.
Nicht lange, und es ärgerte ihn auch das wieder. "Will man mir einen Spott antun? Bin ich etwa nicht der einzige Esel in Bethlehem, der vier Gerstensäcke auf einmal tragen kann?"
In seinem Zorn stemmte er plötzlich die Beine in den Sand und ging keinen Schritt mehr von der Stelle.
Esel: „Wenn er mich auch noch schlägt, dann hat er seinen ganzen Kram im Graben liegen!“
Allein Joseph schlug ihn nicht. Er griff unter das Bettzeug und suchte nach den Ohren des Esels, um ihn dazwischen zu krauen. "Lauf noch ein wenig Elias, wir rasten bald!"
Daraufhin seufzte Elias und setzte sich wieder in Trab.
Mittlerweile war es Tag geworden, und die Sonne brannte heiß. Joseph fand ein Gesträuch, das dünn und dornig in der Wüste stand; in seinem dürftigen Schatten wollte er Maria ruhen lassen. Er lud ab und schlug Feuer, um eine Suppe zu kochen; der Esel sah es voll Misstrauen. Er wartete auf sein eigenes Futter, aber nur, damit er es verschmähen konnte. "Eher fresse ich meinen Schwanz als euer staubiges Heu!"
Es gab jedoch gar kein Heu für den Esel, nicht einmal ein Maul voll Stroh; Joseph, in seiner Sorge um Weib und Kind, hatte es rein vergessen. Sofort fiel den Esel ein unbändiger Hunger an. Er ließ seine Eingeweide so laut knurren, dass Joseph entsetzt um sich blickte, weil er meinte, ein Löwe säße im Busch.
Inzwischen war auch die Suppe gar geworden, und alle aßen davon. Maria aß, und Joseph löffelte den Rest hinterher, und auch das Kind trank an der Brust seiner Mutter; nur der Esel stand da und hatte kein einziges Hälmchen zu kauen, Es wuchs da überhaupt nichts, nur etliche Disteln im Geröll. "Gnädiger Herr!" sagte der Esel erbost und richtete eine lange Rede an das Jesuskind; eine Eselsrede zwar, aber ausgekocht scharfsinnig und ungemein deutlich in allem, worüber die leidende Kreatur vor Gott zu klagen hat. "I-a!" schrie er am Schluss, das heißt: "So wahr ich ein Esel bin!"
Das Jesuskind hörte alles aufmerksam an. Als der Esel fertig war, beugte es sich herab und brach einen Distelstängel; den bot es ihm an.
Esel: "Gut! So fresse ich eben eine Distel! Aber in deiner Weisheit wirst du voraussehen, was dann geschieht. Die Stacheln werden mir den Bauch zerstechen, so dass ich sterben muss, und dann seht zu, wie ihr nach Ägypten kommt!"
Wütend biss er in das harte Kraut, und sogleich blieb ihm das Maul offen stehen; denn die Distel schmeckte durchaus nicht, wie er es erwartet hatte, sondern nach süßestem Honigklee, nach würzigstem Gemüse. Niemand kann sich etwas derart Köstliches vorstellen, er wäre denn ein Esel.
Für diesmal vergaß der Graue seinen ganzen Groll und er legte seine langen Ohren andächtig über sich zusammen.
Engel: „Na, das ist ja grad nochmal gut gegangen. Ich dachte schon, so kommen die nicht weit, geschweige denn nach Ägypten! Aber der Elias ist doch ein guter Kerl, man muss nur wissen, wie man ihn ansprechen muss. So, mein Auftrag ist erledigt, ich bin dann mal wieder im Himmel, singen.“
Und wer jetzt noch mehr über Esel erfahren möchte, z.B. warum sie als störrisch gelten, kann sich hier schlau machen:
Steckbrief: Esel - Wissen - SWR Kindernetz